Kürassier-Parade auf dem Domplatz Halberstadt
27.05.2017
Manchmal denke ich, nur so für mich allein, dass ein einziges Menschenleben doch viel zu kurz ist, um Geschichte
überschauen und als Einzelner gestalten zu können. Wenn man meint, den eigenen Blick auf geschichtliches Geschehen
gefunden zu haben, hat das Alter oft schon zugeschlagen. Nur selten erwischt man Momente, in denen Geschichte und
Geschehen lebendig zu erleben ist und ein Abgleich mit eigenen Erfahrungen ermöglicht. Wenn es dann passiert, steht
man kopfschüttelnd daneben, sieht die Unvernunft, aber versteht den Ablauf. Über das Ergebnis allerdings lässt sich
dann jahrelang gar trefflich streiten. Ein oder zwei Jahrhunderte später hat sich die Gesellschaft schließlich ein Bild
davon gemacht, das allgemein anerkannt und gültig ist. Da hat das Wendegeschehen in der DDR zum Glück noch ein
Dreivierteljahrhundert vor sich, ehe die Wahrnehmung davon endgültige Konturen annimmt.
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Als vor 200 Jahren erste Teile einer 1815 aufgestellten Reitertruppe nach Halberstadt verlegt wurden, prägten diese
Einheiten fortan ein Jahrhundert lang das Stadtbild. Zwei Jahre zuvor waren die Reiter noch an den Befreiungskriegen
gegen das Frankreich Napoleons unterwegs. Mit ihrer Hilfe gingen die Oberen aber auch gegen streikende Arbeiter in
Halberstadt vor. Heute weiß man das, kann es richtig einordnen. Damals war es einfach nur alltägliches Geschehen,
nichts, was aus Sicht der Historiker ins Auge fiel. Heute, 200 Jahre später, erinnert man daran, dass es in Halberstadt
eine Reitertruppe gab. Von den Einsätzen gegen streikende Arbeiter und der Niederschlagung von Bürgerunruhen im
nahen Aschersleben, war übrigens, nach meiner Wahrnehmung, keine Rede.
Mit einigen hundert anderen Einwohnern und Gästen stehe ich an diesem 27. Mai 2017 am Rande des Domplatzes, um
die Reiterei zu empfangen. Mich treiben die Neugier und das gute Wetter. Außerdem bekommt man nicht jeden Tag
Kürassiere und Husaren hoch zu Ross vor die Linse. Das Knallen vieler Pferdehufen auf holpriges Pflaster und die
Pferdeäppel auf Straßen und Plätzen sind heutzutage schon eine kleine Sensation und es erinnert mich entfernt an
meine Kindheit auf dem Dorf, wo Pferde noch zum Gemeinschaftsleben dazu gehörten. Jetzt stehen zwei Duzend der
stolzen Tiere in der Straße zum Domplatz und warten auf das Signal zum Beginn der Parade.
Ein Signal erschallt über die Weite des Platzes und der Spielmannszug setzt sich in Marsch. Ihm folgen die Kürassiere
und Husaren in ihren farbenprächtigen Uniformen. Dies ist schon ein beeindruckendes Bild, auch wenn mir ein Vollweib
in Rot und gezücktem Handy rücksichtslos genau vor meine filmende Linse läuft. Ich hätte ausschlagen wollen, wäre ich
in diesem Moment ein Gaul gewesen! Es hätte aber auch sein können, dass einer der Gäule aus der Reihe hätte tanzen
wollen, um ihr Rot zu beäugen.
Der Domplatz ist inzwischen nahezu vollständig von Zuschauern eingerahmt. Sie alle erleben, wie die Reiterei stolz über
den Platz trabt, eine große Runde dreht und dann auf der Schattenseite Aufstellung nimmt. Ein Kommandeur, dessen
nervöser Schimmel mit seinen Hufen den Sand des Platzes zu Staub zermalmt, versucht, die Einheit zu sortieren. Es
dauert eine Weile, doch dann stehen sie, während auf der anderen Seite eine kurze Begrüßungsrede gehalten wird. Die
pralle Schönheit dieses prächtigen Bildes von Ross und Reitern lässt völlig vergessen, dass wir gerade eine der
mächtigsten Kriegswaffen des 19. Jahrhunderts bewundern, die auch an den „Einigungskriegen“ zur Schaffung eines
Deutschen Reiches unter der Führung der Preußen beteiligt waren.
In der staubigen Hitze des Domplatzes wird danach die Zeremonie der Übergabe eines Wimpels, oder ist es doch eine
Standarte, vollzogen. Schön vorsichtig, damit die drei Reittiere nicht durchdrehen und nichts passiert. Doch schon wenig
später, während der Vorführungen und Präsentation von Pferd und „Kostümierung“, setzt sich tatsächlich eines der
Pferde, bei einem Ausrutscher, auf sein Hinterteil. Durch das weite Rund geht ein lautes Raunen des Publikums, doch,
als wäre nichts geschehen, stehen Pferd und Reiter Sekundenbruchteile später wieder sicher auf ihren vier Beinen,
sprich Hufen. Respekt dem Reiter, der sich nichts anmerken lässt und dem nervösen Pferd Sicherheit und Ruhe schenkt.
Aus der berittenen Runde sticht ein Paar, Ross und Husar, ganz besonders hervor. In einer schmucken grünen Uniform
mit der hoch aufragenden Fellmütze, macht dieser fremde Reiter eine herausragende Figur, zumal der sein Ross
offensichtlich bestens unter Kontrolle hat. Stolz wie eine Diva trabt es mit seinem Reiter an uns Zuschauern vorüber, um
dann auf der Gegenseite im Galopp entlang zu jagen. Das ist eine Szene, wie man sie sonst nur aus Filmen kennt. Das
Publikum raunt anerkennend dazu.
Nach den erfahrenen Reitern, dürfen nun auch die jungen Kadetten ihr Können zeigen. Am Ende des Platzes ist ein
kleines Hindernis aufgebaut, über das sie ihre Pferde springend führen sollen. Leichter angekündigt, als dann auch zu
zeigen. Zunächst gelingt nur ein Vorbeireiten, doch im zweiten Anlauf springen sie alle über die Latten und ernten
Beifall. Sie nehmen alle noch einmal ihre Position ein, um abschließend in geschlossener Reiterformation über die ganze
Größe des Domplatzes zu paradieren. Das ist noch einmal ein imposanter Anblick, diese stolzen Tiere und deren Reiter,
in Hitze und Staub, so hautnah zu erleben. Das sah vor 200 Jahren sicherlich anders aus, wirkte sicher auch in anderer
Weise, aber diese Macht der Bilder und deren Wirkung einmal live quasi zu fühlen, macht für mich gerade ein Stück
Geschichte lebendig nachvollziehbar. Einschließlich der Erkenntnis, einem berittenen Kämpfer im vollen Galopp ja nicht
in die Quere kommen zu wollen.
Nach mehr als einer Stunde in sengender Hitze stellen sich Rösser, Reiter und Uniformierte noch dem Publikum und den
Fotografen für ein abschließendes Gruppenbild. Diesmal ist die „Lady In Red“, frei nach Chris de Burgh, allerdings nicht
zu sehen und keiner läuft mir vor die Linse. Nur wenige Minuten später verlässt die Reiterformation, unter den Klängen
des Spielmannszuges Harsleben, wieder das Areal und mit ihr ein Hauch von Geschichte. Die Besucher wenden sich
wieder vom Domplatz ob, um sich dem Alltag am Wochenende zu widmen. Für eine reichliche Stunde dominierten
Pferdehufe den historischen Platz, der vieles kommen, aber auch wieder gehen sah. Zurück bleibt seine beschauliche
Ruhe und überall verstreut – Pferdeäppel.
Für eine reichliche Stunde konnte man ein Gefühl ahnen, das es in der Gegenwart so nicht mehr gibt. Heute sehen
Paraden anders aus, fühlen sich anders an und erfüllen andere Zwecke. Wie man sie in 200 Jahren einordnen und
bewerten wird, kann man nur ahnen. Meine leise Hoffnung ist, man möge die Kriegsmaschinerie unserer Tage später
nicht verklären und voll Stolz vorführen. Man möge sie bis dahin vollständig vernichtet haben und nur noch den Frieden
feiern.
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.